Schlafen im Bett
von
MARCELLO MASTROIANNI
Norditalien,
Sauwetter. Dunkel, starke Windböen. Regen, viel Verkehr. Nasse Vorderlichter, in langen Reihen. Entlang der Strasse grosse Geschäfte, Fabriken. Hier dreht sich der Motor der italienischen Wirtschaft.
Und dann plötzlich Ruhe. Knappe 10 Kilometer über eine Seitenstrasse und dann bist du da, beinah. Solighetto, ein kleiner Fleck auf der italienischen Landkarte. Aber viele Leute aus dieser Gegend wissen diesen Fleck blindlings zu finden bei grösseren Ausflügen oder um einfach zum Essen auszugehen.
Da Lino heisst diese “locanda”, dieses Restaurant. ‘Bei Lino’. So wird es wohl für alle Zeiten heissen, obwohl Lino nicht mehr dort ist. Lino Toffolin, wahrscheinlich noch bekannter als Person denn als Koch, eröffnete seine Locanda 1961. Jetzt, ein knappes halbes Jahrhundert später, macht das Faltblatt, das ihn überlebte, werbend auf ‘eines der schönsten Restaurants der Welt’ aufmerksam. Ohne die geringste Spur von Bescheidenheit und mit der Übertreibung, der du bei den Menschen im Lande Marco Polos des öfteren begegnest, so als wären sie noch nie jenseits der Landesgrenzen gewesen. Aber es kennzeichnet diesen Fleck gut. Bescheiden ist nichts daran. Stellt ein gewöhnliches Restaurant einen Kupfertopf und eine Pfanne aus, so hängt Lino davon hundert an die Decke und …zig Teile an die Wand. Schöne. Dort, wo noch Platz ist zwischen den zahllosen Malereien in verschiedensten Stilen.
Und es überzeugt trotz des Überflusses, oder gerade deshalb. Nicht alles ist schön, aber es wird überwältigend deutlich, dass du hier nicht bei jemandem zu Gast bist, der aus Verlegenheit anderthalb Dreschflegel und drei Viertel eines Wagenrades aufstellt.
Er
‘Er ist frei!’, sagt die Dame an der Rezeption entzückt, als ob sie an unserem Lotteriegewinn teil hätte, von dem wir selbst noch nichts wissen.
‘Lino’ entspricht der Art von Restaurant,das mehr als Service für die Gäste denn als Hotel eine Anzahl Zimmer bereit hält, von denen wir eins reserviert haben. Es sind Zimmer mit Stil, die neben dem Hauptgebäude liegen. Es gibt aber auch Zimmer, selbst Suiten im Hauptgebäude. Lino war zu Lebzeiten eine Art Künstler, der auch Künstler zu Freunden hatte. Für sie hielt er einen ganzen Gang über seinem Restaurant bereit. Da sollten sie jederzeit Platz finden, und das galt für niemanden mehr als für ‘ihn’. ‘Er’ war Linos berühmtester Freund, Marcello Mastroianni.
War der weltberühmte Schauspieler nicht anwesend, konnte sein Zimmer im Prinzip an andere vermietet werden, was aber praktisch kaum geschah. Marcello sollte immer, unerwartet erscheinen können. Sein Zimmer nahm derart den Charakter einer zweiten Wohnung an, dass die Suite mit Marcellos eigenen Möbeln ausgestattet wurde. Eine seiner Töchter entwarf eigens dafür ein Bett und eine Kommode.
Im Empfinden der Rezeptionsdame sind Mastroianni und seine Suite inzwischen zu einer Einheit geworden. ‘Er’ ist sowohl der Mann als auch das Zimmer, das seinen Namen trägt. Wahrscheinlich wurde aufgrund des schlechten Wetters die Reservierung dafür kurz vor unserer Ankunft abgesagt. Für einen Aufschlag von nur 10 Euro ist der Gedanke, daß du so eine aussergewöhnliche Gelegenheit nicht wahrnimmst, für sie undenkbar. Sie hat recht. Wir tun es.
Etwas später schleppen wir unser Gepäck über den Gang. An jeder Tür ein Namensschild. Darauf die Namen von Menschen, die nur innerhalb Italien weltberühmt sind, ausser dem letzten. ‘Marcello Mastroianni’, das steht da wirklich, genauso wie unten an der Vortürklingel.
Es fühlt sich an, als müsse man erst anklopfen, aber du hast den Schlüssel in der Hand, den der Mann aus La Dolce Vita nicht mehr hat. Der Mann aus Das süsse Leben sitzt nun geniessend im Himmel, stellst du dir vor. Der Mann, der immer den Eindruck machte, das Leben ohne Anstrengung zu leben, den kannst du dir nicht grübelnd im Fegefeuer vorstellen. Ein Mann, bei dem alles wie von selbst zu gehen schien, der Höhepunkt des Italieners, der nichts im Voraus regelt und auf ewig damit zurecht kommt. Und das mit einer Art unwiderstehlicher kindlicher Fröhlichkeit, die diejenigen, die alles für ihn tun mussten, weil er nichts tat, jedes mal auf’s Neue versöhnt. Wenigstens das.
Das alles glaubst du zu wissen, aufgrund der Filme, die du gesehen hast, in denen der Mann, den du so gut zu kennen meinst, bloss eine Rolle gespielt hat. Oder lag es daran, dass er gerade die Rollen bekam, die er nicht spielen musste, Rollen, für die nur er selbst zu sein brauchte? Ihm auf den Leib geschrieben.
Das Zimmer
Was mag Marcello von den zwei Ausländern mit seinem Schlüssel vor seiner Tür denken? Er findet das gut, denken wir. Da wir ihn nämlich ‘kennen’, wissen wir, dass er keineswegs kleinlich war. Genauso wie Lino. Er gönnt es uns.
‘Dai!‘, ruft er, ‘geht da nur rein!’
Der Schlüssel dreht sich im Schloss, aber die Tür scheint doppelt zu sein. Die zweite gibt den Zugang zu einer Art Vorzimmer frei. Dann kommt ein Gang mit grossen Kleiderschränken an der einen Seite und einem Badezimmer an der anderen. Helles, gelacktes Parkett.
Der Gang mündet in das Schlafzimmer. Geräumig und rechteckig. Das Bett gross und modern. Zwei kolossale, klassische Spiegel. Die Kommode im Stil des Bettes, auf einem niedrigen Tischchen eine schwarz-weisse Skulptur von Qualität. Ein paar Malereien, eine davon mit einer Widmung des Künstlers an den Mann, der hier soviel Zeit verbracht hat. Die Bilder, die auch nicht schön im Raum verteilt sind, erfüllen dich mit einer gewissen Dankbarkeit dafür, dass sie hier hängen und nicht bei dir zuhause.
Was, fragst du dich, ist hier noch genauso wie zu der Zeit als Marcello hier wohnte? Die riesigen Spiegel! War er wirklich so eitel, oder waren es seine Geliebten?
Die Antwort. Lino konnte es nicht ertragen, so viele Erinnerungen in dem Zimmer zu sehen, nachdem sein Freund aus dem Leben geschieden war. Nur die Kommode und das Bett sind geblieben. Das Bett! Das allerpersönlichste, was es an Möbeln gibt, das intimste. Ausgerechnet das steht da noch.
Du siehst dich um, dich auf dem glänzenden Parkett drehend. Das Zimmer hat etwas Kaltes. Ist das etwas für den Mann aus La Dolce Vita? Nun ja, solange die anderen Möbel und die persönlichen Dinge fehlen, wirst du nie genau erfahren, wie es war.
Und doch, trotz des Fehlens, fühlt es sich ganz stark so an, als ob Marcello noch da sei. Merkwürdig. Wir kennen jemanden, der für einen Spottpreis ein Haus gekauft hat, in dem ein berüchtigter Mord verübt wurde. Niemand wollte es haben. Dem Käufer war das unwichtig. “Das war damals, jetzt ist jetzt’.
Aber auch hier, in der Suite von Marcello Mastroianni, können wir das Damals und das Jetzt nicht so sehr voneinander trennen. Vielleicht ist es eine Frage der Zeit und noch nicht lang genug her.
Wir gehen in Marcellos Badezimmer und nehmen auf seinem WC Platz, nicht ohne eine gewisse Verlegenheit. Ein WC mit einem Lächeln, das ja, denn es hat ein Telefon. ‘Typisch Marcello’, glauben wir zu wissen.
Das Bett
Wir steigen ins Bett.
Da liegen wir. Und das kann kurz oder lange dauern. Nein, lange nicht. Es gibt kein Entrinnen. In dem Bett kommt die Frage direkt auf dich zu. Musst du in dem Bett…? Oder gerade nicht?
Die Dame an der Rezeption hatte erzählt, dass Marcello in “unserem” Zimmer seine Frauen, eine Gattinnen und Maitressen empfing. Sie sagte es ohne lästernden Unterton. Fast wie etwas Überflüssiges, die Feststellung einer Tatsache, das, wofür ein Hotelzimmer nun einmal da ist. Naturalmente.
Gefühle und Gedanken streiten um den Vorrang. Es scheint, als ob er dabei sei. Wollen wir trotzdem? Sollen wir dem berühmten latin lover ‘lowland lovers’ zeigen? Wird ihn das, überrascht, beeindrucken? Oder riskieren wir aus der Ecke dahinten ein schallendes Gelächter? Hm.
Müssen wir es ihn dann vielleicht merken lassen, dass wir sehr wohl wissen, dass er für die Qualifikation lateinischer Liebhaber Ekel empfand? Also einfach die Zeitung aufschlagen, ein Buch? “Ich sehe was, was du nicht siehst?”
Oder war seine Abscheu für die Reputation nur teilweise so gemeint, nur so lange sie den Eindruck erweckte, dass seine Qualitäten damit erschöpft waren? Ist ein Italiener mit einer Abscheu gegenüber dem Ruf als Liebhaber nicht ebenso seltsam wie Spaghetti ohne Strähnen?
Er stört
Marcello stört. Nicht das ich finde, dass er abhauen muss. Nein, es ist sein Zimmer. So fühlt es sich an. Wir sind es, die zu Besuch sind, bei ihm. Es gelingt mir deshalb auch nicht, in seinem Bett zu liegen. Ich liege mehr drauf als drin.
Und meine Frau? Gehe ich das Risiko ein, dass, wenn ich nichts tue, der Geist von Marcello vielleicht….? Und ich bin dabei?!
Meine Frau scheint mit Marcellos Anwesenheit kein Problem zu haben. O je, da geht’s schon los. Aber Gottseidank, sie hat mit etwas anderem Schwierigkeiten. Der Gedanke an all die Menschen, die seit Marcellos Dahinscheiden gerade dieses Zimmer gemietet haben, um zu…
Meistens gelingt es in einem Hotelzimmer, die Gedanken von dir abfallen zu lassen an den Dicksack in deinem Bad, in deinem Bett, die Nacht zuvor. Meistens gelingt es dir, das Zimmer als dein Zimmer zu betrachten, es ist eh nur für kurze Zeit. Hier nicht, hier ist es zu beladen. Marcello, alle die nach ihm, es ist hier zu voll. Zudem ist es eisig still.
Wir machten das Licht aus. Von wem sollten wir träumen? Sie von Marcello, ich von la Deneuve? Oder von…
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© Joost Overhoff